Das Buch der Lügen

Alles begann im September 1984 an der französischen Atlantikküste. Ich hatte als Urlaubslektüre alle drei Bände von Robert Shea und Robert Anton Wilsons „Illuminatus!“ dabei und amüsierte mich köstlich. Diese Reise durch die damals üblichen Verschwörungstheorien war ebenso rasant, wie faszinierend und lustig. Als Zögling einer Generation von Sinnsuchenden war das Buch Futter für die Phantasie und wurde, neben den damals unvermeidlichen Büchern von Carlos Castaneda, für eine Weile meine Lieblingslektüre. Schon beim ersten Lesen fiel mir Robert Anton Wilsons Begeisterung für einen englischen Magier namens Aleister Crowley auf. Etwas das Konsequenzen haben sollte, was mir damals allerdings noch nicht bewusst war. Im Herbst 1985 hatte ich dann alles von R.A.Wilson gelesen was er zu diesem Thema verfasst hatte (unter anderem „Die Masken der Illuminaten, Cosmic Trigger) und es wurde mir klar, dass ich etwas von Crowley selbst lesen wollte. Doch in der Post- Internet Zeit war das gar nicht einfach. In der Universitätsbibliothek waren zwar offiziell einige Werke vorhanden, aber über Monate nicht ausleihbar, aus den seltsamsten Gründen. In der Buchhandlung meines Vertrauens erheischte ich nur seltsame Blicke aber kein Buch. Das ging so, bis ich auf einer Party durch Zufall eine ehemalige Klassenkameradin traf, die eine Lehre zur Buchhändlerin absolvierte. Ich schilderte ihr mein Problem und sie versprach mal nachzusehen, ob da nicht doch etwas möglich wäre. Zwei Wochen später klingelte mein Telefon und meine Bekannte erzählte mir voller Stolz, wie sie es geschafft hatte ein Exemplar des „Buchs der Lügen“ zu ergattern. Im Großhandel war es gelistet, allerdings war die Charge wegen eines Vorfalls im Umfeld des Verlags gesperrt worden und nur gute Kontakte meiner Bekannten hatten es fertiggebracht, ein Exemplar zu bekommen. Ich war erstaunt und gerne bereit die damals stolze Summe von 19,90 DM für das Buch zu bezahlen. In der darauffolgenden Woche meldete der Spiegel warum die Charge gesperrt worden war. Damit wurde mir klar, dass es sich hier um kein gewöhnliches Buch handelte, sondern um ein Werk, dass seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1912 zu Mythen und Legenden Anlass gab. Nur warum?

Die Antwort darauf dauerte eine ganze Weile. Denn das Buch der Lügen zu besitzen und das Buch zu verstehen war ein himmelweiter Unterschied. Es dauerte fast 2 Jahre bis ich das erste Kapitel vollständig begriffen hatte. Bei einem Buch das nahezu vollständig aus Koan ähnlichen Aussagen (Ein Koan wird in Teilen des Zen Buddhismus auf dem Weg zur Erleuchtung benutzt, es sind kleine, im ersten Moment unlösbare Rätzel über die Meditiert werden soll) nicht einmal eine lange Zeit. Von da an wurde es einfacher. Nach und nach lüftete sich der Schleier über einem Kapitel nach dem Anderen. Sieben Jahre später hatte ich das Buch soweit entschlüsselt, das mir bei nahezu allen Kapiteln klar geworden war, wovon es handelte. Leider führte dieser Erfolg erst einmal dazu, dass ich mich selbst dramatisch überschätzte und einige nicht ganz optimale Entscheidungen in meinem Leben traf. Zehn Jahre später war diese Entwickelung endlich abgeschlossen, wen sie interessiert, ich habe sie 2010 in meinem Buch „Liams Weg in das Licht“ aufgeschrieben.

Da ich natürlich in meinem Buch nicht umhinkam „das Buch der Lügen“ zu zitieren nahm ich es nach langer Zeit einmal wieder in die Hand. Dabei stellte ich etwas Erstaunliches fest. Die Übersetzung aus dem Jahre 1985 war stellenweise fehlerhaft. Ich wollte „die Messe des Phönix“ zitieren und stieß dabei aus Zufall auf den englischen Originaltext. Nur, die Aussagen waren nicht identisch. Kopfschüttelnd versuchte ich es mit anderen Stellen im Buch. Es bildete sich ein Muster heraus. Besonders bei den Ritualen war die Übersetzung so gewählt worden, dass sie im Deutschen gut klangen, allerdings zulasten des Wortsinns. Durfte man das? Oder hatte es deshalb sieben Jahre gedauert das Buch der Lügen zu verstehen, weil die Übersetzung Probleme machte? In den nächsten zwei Jahren dachte ich darüber nach. In dieser Zeit tauchte das Buch der Lügen nahezu ständig auf. Ich las „Der Weg des Magiers“ von Paulo Coelho und stellte fest, dass sogar der erfolgreichste Autor unserer Zeit von Crowley beeinflusst worden war. Ganz abgesehen von weiten Teilen der Rockmusik und vielen anderen Aspekten unseres Lebens. War es nicht richtig, oder sogar meine Pflicht die deutsche Ausgabe seines Meisterwerks zu verbessern?

Wieder griff das Schicksal ein. In der Finanzkriese 2013 hatte ich auf einmal viel Freizeit in meinem damaligen Broterwerb. Ich nutzte diese Kurzarbeit um 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung eine neue deutsche Übersetzung zu fertigen. Doch ich stellte schon bald fest, dass eine reine Übersetzung nicht ausreichend war. Die Allgemeinbildung eines Engländers der Oberschicht um 1913 unterschied sich zu sehr von der Allgemeinbildung eines Deutschen um 2013. Ich ergänzte deshalb meine Übersetzung durch sorgfältig recherchierte Begriffserklärungen. Das erschien mir Richtig, denn meine Anmerkungen waren weit entfernt von einer Interpretation. Eine Interpretation verbot sich von selbst, das Lösen der „Koans“ ist das eigentliche Ziel des Buches, nicht das intellektuelle Verstehen einzelner Kapitel. Stolz präsentierte ich das Ergebnis meinem Verleger, doch der war erst einmal alles andere als begeistert. Zuerst klärte er mich auf, dass der Autor 70 Jahre tot sein muss, bis ein Werk in Deutschland gemeinfrei wird. Da Aleister Cowley erst im Dezember 1949 gestorben war, war es noch eine Zeitlang hin, bis wir das Buch ohne Lizenzschwierigkeiten veröffentlichen konnten. Dann hatte ich eine sehr unerquickliche Unterredung mit der Technik. Crowleys Ansatz auch den Buchsatzt mit in sein unmögliches Buch einzubringen sei als E-Book nicht machbar. Als nächstes fand sich niemand der sich in der Lage sah das Lektorat zu übernehmen. Crowleys Schachtelsätze und Interpunktierung war zu weit entfernt von dem was als „Rechtschreibung“ durchging.

Frustriert legte ich das Projekt erst einmal auf Eis. Allerdings arbeitete ich in den folgenden vier Jahren bis zur Gemeinfreiheit immer wieder daran. Unzählige Rechtschreibkorrekturen, Satzbauänderungen und Detailfragen wurden immer wieder von mir beearbeitet. 2019 schließlich traf ich die Entscheidung auf den ursprünglichen Buchsatzt zu verzichten. Jetzt war der Weg frei meine Übersetzung doch wie geplant als E-Book zu veröffentlichen. Doch ich hatte die Rechnung ohne Corona gemacht. Deshalb dauerte es noch einmal zwei Jahre bis die finale Version vorlag. Heute am 31.01.2022 ist das Buch der Lügen als E-Book bei Amazon erschienen.

„Die Moral des Kapitels ist, das es nie gut ist Leuten etwas beibringen zu wollen, die das nötig haben.“ (Das Buch der Lügen Kapitel 88 – Nichtsnutze)

Mehdi Martens