Interview mit Mehdi Martens anlässlich der Veröffentlichung seiner Übersetzung des „Buchs der Lügen“

RB: Guten Tag Herr Martens. Heute ist ein Tag zum Feiern oder?

MM: Oh Ja! (lacht) Das heute das Buch der Lügen erschienen ist, ist wie eine Geburt nach 9 Jahren Schwangerschaft.

RB: Verständlich. Warum aber ausgerechnet Aleister Crowley und Das Buch der Lügen?

MM: Das habe ich mich ehrlich gesagt auch schon gefragt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich schon immer gerne Texte interpretiert habe die sich einem nicht auf den ersten Blick erschließen. Kafka, Takel oder Poe um nur einige zu nennen.

RB: Das kann aber noch nicht alles gewesen sein.

MM: Nein, natürlich nicht. Wie ich in meinem Beitrag auf dieser Seite schon geschrieben habe, war es ein langer Weg zu dieser Veröffentlichung. Und es gibt in meinen Augen gute Gründe sich einmal objektiv mit dem Werk Crowleys auseinanderzusetzten.

RB: Die wären?

MM: Zum einen der Einfluss den Crowley auf unsere heutige Gesellschaft hat. Er ist ein Vorreiter der Popkultur. Ein Dutzend Rock-Bands von Black Sabbath bis Led Zeppelin geben an, von Ihm beeinflusst worden zu sein. Die sexuelle Revolution, das vorwegnehmen der Menschenrechte und ein großer Teil der populären Literatur sind stark von seinen Ideen geprägt. Letzteres fängt bei Carlos Castaneda an und endet bei Paulo Coelho.

Zum anderen hat er etwas in die Welt gebracht, was ich als „Baukasten“ für Religionen bezeichnen würde. Das ist hingegen etwas durchaus Zweischneidiges.

RB: Das müssen sie mir erklären.

MM: Crowley war der erste der so etwas wie „vergleichende Religionswissenschaft“ betrieben hat, unter Einbeziehung magischer Glaubenssysteme. Max Müller, ein deutscher Religionsgelehrter, der heute als „Erfinder“ der Religionswissenschaft gilt, war ein Zeitgenosse Crowleys. Von 1879-1897 erschienen unter seiner Leitung die monumentale 50-bändige Sammlung „Heilige Bücher des Ostens“. Die erste englische Übersetzung der wichtigsten heiligen Texte des Hinduismus, Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus, Zoroastrianismus, Jainismus und Islam. Das war damals etwas grundlegend Neues, denn bis dahin war das Christentum nur bemüht gewesen „Aberglauben“ zu verdammen und zu verfolgen. Dieser wissenschaftliche Ansatz konnte natürlich auch auf die Kirche selbst angewandt werden, was Crowley unverzüglich tat. Lange bevor Joachim Wach die Religionssystematik 1924 ins Leben rief hat Crowley sein Buch der Lügen geschrieben (1913). Indem er die neuesten Forschungen und deren Methodik auf sogenannte magische Systeme ausdehnte, schuf er quasi einen Werkzeugkasten, von dem sich seitdem alle möglichen Sekten gerne bedienen.

RB: Das müssen sie mir näher erklären.

MM: Das klingt schwieriger als es ist. Kein Kult kommt ohne mystische Erfahrungen aus. Erfahrungen die über das hinausgehen was unser Alltagsbewusstsein aufgrund seiner Erfahrungen als Realität definiert. Solche mystischen Momente zeichnen sich vor allem durch intensives Erleben und Gefühle aus, etwas was wir Menschen nur allzu gerne suchen. Wäre es anders, dann wären weder Drogen, noch Religion ein Thema. Diese Erfahrungen „überzeugen“ dann potentielle Anhänger eines Kults davon, dass die Thesen des Kults richtig sein müssen, dass sie derartige Erlebnisse hervorbringen können. Und genau das ist das Problem.

RB: Weil es keinen Zusammenhang zwischen mystischen Erfahrungen und religiösen Dogmen gibt?

MM: Exakt! Betrachtet man derartige Phänomene wissenschaftlich, dann sind sie reproduzierbar, wenn gleiche Bedingungen geschaffen werden und damit ehr Naturgesetzte als Wunder. Die menschliche Existenz ist so strukturiert, dass wir diese Phänomene wahrnehmen können, ohne sie Verstandesmäßig zu begreifen. Crowley hat das glasklar erfasst und daraus seinen berühmten Satz geformt: „Unsere Methode ist Wissenschaft, unser Ziel ist Religion!“

RB: Was ist daran gefährlich? Nüchterne Betrachtung schadet doch niemals.

MM: Nein, doch das ist der Punkt! Er ging davon aus, dass seine Leser begreife würden wie diese Dinge funktionieren. In seinen Schriften erklärt er Yoga, Tantra, Tarot, Astrologie, Meditation. Er erschafft Rituale, Messen und ruft sich sogar selbst zum Messias aus. Kurz er tut alles um seinen Lesern begreiflich zu machen, dass in all diesen Praktiken ein Körnchen mystische Erfahrungen zu finden ist. Indem er sie alle gleichzeitig verwendet hofft er das sie erkennen würden, wo der rote Faden verläuft. Leider hat er dabei die Rechnung ohne den Wirt, die menschliche Natur gemacht.

RB: Aber deine Schüler stecken sich, statt Steine zu fertigen, Stroh ins Haar und glauben sie wären Jesus Christus. (Das Buch der Lügen, Kapitel 58- Haggai-Heulen)

MM: (lacht) Oh ja. Genau das passiert leider meistens. Denn in Wirklichkeit befinden wir uns, mit uns selbst, in einem Krieg. Unsere sogenannte Vernunft und das, was sich nach mystischen Erfahrungen sehnt ringen permanent miteinander. Gewinnt eine Seite und unterwirft die Andere kommt es zur Katastrophe. Gewinnt die Vernunft sterben wir vor Langeweile und Selbsthass. Gewinnt die mystische Seite werden wir zu völlig unvernünftig handelnden Idioten, die sich für ihren „Glauben“ sogar selbst töten.

RB: Also ist beides falsch?

MM: Natürlich! Dualität ist das auf der Welt vorherrschende Prinzip. Mann und Frau, Hell und Dunkel, Gott und Teufel. Doch nichts davon kann alleine existieren, erst wenn die Dinge ausgeglichen sind, stimmt das kosmische Gleichgewicht. Ich glaube nur was ich sehe, ist genauso falsch wie ich glaube fest daran.

RB: Das klingt schwierig.

MM: Oh ja. Deshalb wird die Menschheit ja nicht müde immer neue Systeme zu erfinden die uns Glücklich machen sollen. Es entstehen immer wieder neue Kulte, die immer der Ansicht sind, es bessert zu machen als ihre Vorgänger. Doch das ist immer vergeblich. Unser Verstand, als Torwächter für das was wir sehen wollen, verwandelt immer die Methode in das Ziel. Dann werden die Rituale zum Selbstzweck, heilige Bücher auswendig gelernt und als einzig seligmachende Wahrheit verkauft. Dabei ist es völlig egal, ob man ein innehalten in den täglichen Routinen Gebet, Mediation, Yoga, Kartenlegen oder Autogenes Training nennt. Es ist immer das Gleiche und sollte immer nur ein Mittel sein sich selbst in die Balance zu bringen. Seiner nach Sinn strebenden Seele Raum zu geben, ohne dabei auf Logik und nüchterne Betrachtung zu verzichten.

RB: Das hört sich blasphemisch an.

MM: Natürlich. Das ist bis heute der Grund warum Crowley von fast allen Kulten verabscheut wird. Denn das spricht er immer wieder aus. „Es gibt keinen Gott außer dem Menschen.“ Tue was du willst ist das ganze Gesetz“. „Liebe unter Willen“. Er wird nicht müde uns diese Dualität begreiflich zu machen. Kulte, besonders Autoritäre, fühlen sich dadurch zu Recht bedroht. Würden ihre Anhänger begreifen, das Rituale lediglich Mittel zum Zweck sind und letztendlich die Freiheit zu Entscheiden das Ziel sein muss, dann wären diese sehr bald am Ende. Ihrer Finanziellen Mittel beraubt und marginalisiert. Sie verlören ihre Macht und ihren Einfluss auf die Politik.

RB: Passiert das nicht in weiten Teilen schon? Wenn ich mir den Zustand der katholischen Kirche ansehe zum Beispiel.

MM: Ja, an diesem Beispiel wird sehr deutlich, was alles falsch läuft, wenn Kulte sich verselbstständigen. Die Kirche hat über hunderte von Jahren unsere Gesellschaft geprägt, ohne dabei etwas anzubieten, das über ein bloßes Gemeinschaftserlebnis hinaus geht. Ein paar Rituale, Gebet und Weihrauch, fertig war das mystische Erleben. Echter Mystizismus wurde meist verdammt und verfolgt. Aber das bisschen was die Kirche angeboten hat genügte, um weite Teile der Bevölkerung hinter sich zu scharen. So stark ist unser Bedürfnis nach solchen Erfahrungen.

RB: ich kann aber nicht erkennen, das andere Erlebnisse dieser Art jetzt populär wären.

MM: Jein. Einerseits scheint es so zu sein, dass der Atheismus in Europa die vorherrschende Glaubensrichtung wird. Andererseits gibt es Yoga Kurse, Selbstfindungs- Angebote, etc. noch und nöcher.

RB: Ist die Marginalisierung der Amtskirchen nicht auch eine Folge der Missbrauchsskandale? Und besteht nicht die Gefahr das neue Kulte das Vakuum füllen werden?

MM: Crowley hat das Ende der Amtskirchen vorausgesagt und ihn mit dem Astrologischen Wechsel vom Fisch- in das Wassermann- Zeitalter begründet. Vom Anfang des Christentums, bis es die vorherrschende Religion wurde sind fast 300 Jahre vergangen. Wir leben also in einer Zeit des Übergangs, wenn man dem Glauben schenkt. Ich persönlich hoffe, dass die nächste Religion die Vernunft mit der Mystik verbindet und es Allgemeinwissen wird, wie die menschliche Existenz dual aufgebaut ist. Wir müssen den Krieg zwischen Herz und Verstand beenden. Erst dann wird sich die Menschheit weiter entwickeln. Das war der eigentliche Grund für mich, das Buch der Lügen zu bearbeiten. Um einen winzigen Teil dazu beizutragen.

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